Ortsgeschichte

„Wahrscheinlich gibt es in Deutschland nur wenige Orte, in denen sich Ortsbild, Bevölkerungsstruktur und Einwohnerzahl in kurzer Zeit so sehr gewandelt haben wie in Gräfelfing. Um die Jahrhundert­wende noch ein kleines Dorf mit rein bäuerlicher Bevölke­rung, inmitten von Wiesen und Äckern gele­gen und eingeschlossen in einen Ring von Wäldern mit rei­chem Wildbestand, ist Gräfelfing heute ein Groß­stadtvorort mit fast 12.000 Einwohnern aus allen Tei­len Deutschlands, in dem bäuerliches Leben kaum noch bemerkt wird, mit einer Bevölkerung großstädti­schen Charakters und großstadtähnlichem Verkehr." So beginnt eine 1960 wohl vom damaligen Bürger­meister und Ortschronisten Dr. Paul Diehl erstellte „Kleine Geschichte" Gräfelfings.

Jahrhunderte lang waren Gräfelfing und Lochham kleine Dörfer an der Würm. Der karge kiesige Boden ließ große reiche Güter nicht entstehen. Die we­nigen Höfe und Sölden standen unter vielfältiger Grundherrschaft. Über­schwemmungen, Brände, Seuchen und Kriegsfolgen belasteten die Bevölkerung.

Älteste Siedlungsspuren reichen bis in die Bronze- und Hallstattzeit zurück, Gräberfunde bezeugen Niederlassungen in spätrömischer und Merowinger­zeit. Seit dem 8. Jh. wird „Grevolvinga", später auch „Lohen", in Urkunden erwähnt. Als Grundherren Gräfelfinger  und Lochhamer Höfe erscheinen neben den Kirchen St. Stephan und Neuried die Klöster Schäftlarn (bis 1736) und Benediktbeuren (bis zur Säkularisation 1803), sowie seit dem 15. Jh. die Hof­marksherren von Planegg und Seeholzen. Schloss Seeholzen, wahrscheinlich auf einer Halbinsel in der Würm ge­legen, war Ende des 15. Jh. im Besitz der Familien Riesheimer und Raming. Der Bau wurde wohl im 30jährigen Krieg in Mitleidenschaft gezogen und da­nach nicht wieder aufgebaut, da die Planegger Hof­marksherren von Hörwarth 1634 die Hofmark mit ihrem Besitz verei­nigt hatten.

Gräfelfing und Lochham blieben bis zum Ende des 19. Jh. wenig bedeutend. Das erste bayer. Steuer­kataster 1809 führt 32 Höfe in Gräfelfing auf und 18 in Lochham, von denen die meisten 1876 einem Brand zum Opfer fielen. Die Häuser reihen sich entlang der Würm, die als Quelle für Wasser und Energie mit der Mühle die Lebensader der Ansiedlung bildet. Mit dem Bau der Privatbahn des Baurat Himbsel 1854 von München zum Starnberger See erhält das Würmtal eine neue Achse und wird als Sommerfrische und Ausflugsgebiet für die Münchner Bürger­schaft inter­essant. Würmbäder an der Lochhamer Einkehr und am Anger machen die Gemeinde zum Badeort.

Mit dem neuen Jahrhundert zog auch die Industrie in Gräfelfing ein. Ab 1891 errichtete ein Schweizer Un­ternehmer an der Würm eine Pappdeckelfabrik, die ebenso wie die Mühle durch eigene Turbinen mit Strom versorgt wurde. Auf dem Gelände etablierten sich später u. a. eine Isolatorenfabrik, die Süddt. In­dustriewerke, eine Motorradfabrik und bis 1969 eine Brauerei und der Münchner Modedruck. 1923 ging die Limonadenfabrik Hubauer in Betrieb. Prof. Max Dieckmann hatte seit 1908 auf dem Gelände unter­halb des Neunerbergs seine „Drahtlostelegraphische und Luftelektrische Versuchssta­tion", wo er bahnbre­chende Erfindungen für die Zeppelin-Elektronik und auf dem Gebiet des Funks und Radars entwickelte. Das erste durch Funk übertragene Bild stellt seine Villa in Gräfelfing dar und die Besuche des Zeppelins sind vielen Gräfelfingern aus ihrer Kinderzeit noch in Erinnerung.

Während die Ansiedlung von Gewerbe mit Ausnahme von Geschäften und kleineren Handwerks­betrieben vorerst gemäß der Bauvorschrift von 1915 auf das „Fabrikviertel" beschränkt blieb und bis zur Auswei­sung des Gewerbegebiets 1960 nicht weiter verfolgt wurde, nahm der Ausbau der Wohngebiete einen ra­santen Verlauf. Hand in Hand damit ging der Ausbau der Infra-Struktur: Wasserleitung, Straßenbeleuch­tung, Gas- und Stromnetz, Straßenausbau.1890 eta­blierte sich unter tatkräftiger Mithilfe von Pfarrer Spitzlberger die Freiwillige Feuerwehr als Verein. Die großzügig in 18 m Breite angelegte Bahnhofstraße verband das alte Ortszentrum mit „Neu-Gräfelfing" an der Bahnstation, wo die Gaststätte „Zum Weißen Rössl" seit 1909 das Ortsbild dominierte.

An dieser neuen Achse entstanden neben Geschäf­ten wie den Kolonialwaren am Kiefereck ab 1909 die neue Schule mit Gemeindekanzlei, Post, Polizei und noch 1934 konnte die neue Herz-Jesu-Kirche fertig­gestellt wer­den. Zahlreiche Unternehmer, Kaufleute, Beamte, Künstler und Wissen­schaftler ließen sich in der Folge in den neuen Villenkolonien nieder, u. a. die Kompo­nisten Carl Orff und Werner Egk. Von 465 Einwoh­nern im Jahr 1900 stieg die Zahl bis 1912 auf 1074, 1938 werden bereits 4470 gezählt. Die gegen­sätzli­chen Interessen von alteingesessener bäuerli­cher Bevöl­kerung und bürgerlichen Neusiedlern prägten über Jahrzehnte die Gemeindepolitik - teil­weise mit hef­tigen Auseinandersetzungen. 1912 – 1916 stellten die Zugezogenen mit Ludwig Hartnagel sogar den Bürgermeister, der die Verwaltung straff neu organi­sierte.

Die Gleichschaltung in der NS-Zeit betraf natürlich auch die Gräfelfinger Gemeindepolitik. Anders als in Pasing und Aubing konnte durch Bürgermeister Otto v. Stengel eine geplante Eingemeindung nach Mün­chen verhindert werden. Als bevorzugtes Wohngebiet beherbergte der Ort bedeutende Partei­leute wie Hit­lers Gefährten Julius Schreck, dessen Beerdigung Gräfelfing den Besuch des „Führers" bescherte, je­doch auch kleine Zellen des Widerstands, wovon Prof. Kurt Huber durch seine Verhaf­tung und Hin­richtung traurige Berühmtheit erlangte.

Durch den Krieg kamen zwar die Bauplanungen zum Erliegen, die Bevölkerung nahm jedoch durch Ausge­bombte aus München, Flüchtlinge und Aussiedler ex­plosionsartig zu, was die Wohnraumbe­schaffung zum Problem und zur vorrangigen Aufgabe nach Kriegs­ende machte. Bürgermeister Paul Diehl und Gemein­derat Winter konnten mit dem vorbildlichen Finanzie­rungsmodell der Wohnungsbaugenossen­schaft ab 1948 die ersten Wohnungen bereitstellen. Obwohl aus Kostengründen durch Errichtung von größeren Wohnblöcken der Grundsatz der Villenbe­bauung auf­gegeben werden musste, hielt man doch an dem seit Jahrzehnten gepflegten Ideal der „Gartenstadt" fest. Anstelle des Schlosses Seeholzen entstand 1965 ein Altenheim, 1986 ein zweites in Lochham. Das be­liebte Gasthaus „Zum Weißen Rössl", das langjährige Zentrum des geselligen Lebens und Gründungsort der „Würmesia", an das sich zahllose selige Fa­schingserin­nerungen knüpfen, musste 1968 dem Rat­hausneubau weichen, da die Gemeindeverwaltung im alten Schulhaus den gewachsenen Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnte. Die alte bäuerliche Be­bauung ver­schwand zusehens.

Als ab 1968 mit dem Bau der Autobahn durch Loch­ham sowie Hochhausplanungen der Ortscharakter sich gravierend zu verändern drohte, erhob sich Wi­derstand gegen ein weiteres Anwachsen des Or­tes. Die Bebauung wurde eingeschränkt, das ehemalige Fabriksgelände an der Würm als Volksfest­platz aus­gewiesen. Die Bevölkerungszahl pendelte sich kon­stant bei etwa 13000 Einwohnern ein. In der 30jährigen kontinuierlichen Amtszeit von Bürgermei­ster Eberhard Reichert und seinem Vize Josef Schmid ab 1972 verlegte die Gemeinde den Schwer­punkt ihrer Aktivitäten auf den Ausbau der Infra­struktur und die Förderung kulturellen Lebens. 1976 errichtete sie ein neues Feuerwehrhaus, 1984 ein Bürgerhaus mit Bibliothek und Kino am Bahnhofs­platz anstelle des Kinos der Gebrüder Diehl, der Ur­heber des bekannten Mecki-Igels. Schulen und Kin­dergärten wurden ausgebaut, die Jugendmusik­schule fand ein Domizil im Alten Pfarrhof und die Schule der Phantasie im Schulhaus. Der bereits 1913 durch Ri­chard Riemerschmid angelegte Friedhof wurde mit einer modernen Ausseg­nungshalle erwei­tert.

Vom Kunstkreis initiierte Kunstausstellungen im Rat­haus seit 1975, Kulturfestival im Paul-Diehl-Park seit 1979, Straßenfeste der Geschäftsleute seit 1989 und kulturelle Themenwo­chenenden im Bürgerhaus be­reichern das traditionell reiche Vereins- und Kul­turle­ben des Ortes. An den Umbauplänen zur Bahn­hofstraße entzündete sich 2000 das erste Bürgerbe­gehren in der Geschichte der Gemeinde, das mit ei­nem Bürgerentscheid erfolgreich war; die daraus erwachsene Kompromisslösung konnte 2005 in Rekordzeit umgesetzt werden. Dann kamen mit Umbauten am Lochhamer Schulzentrum und dem lang erwarteten Neubau der Grundschule an der Schulstraße weitere Aufgaben auf die Gemeinde zu. Die Intensivierung der Kleinkinder-Betreuung und Mittagsbetreuung der Schulkinder erfordert große Anstrengungen. Um allen Anforderungen gerecht zu werden, wird ein maßvoller Ausbau des Gewerbegebiets angestrebt, um so die „Gartenstadt" Gräfelfing für Gewerbetreibende und Einwohner gleichermaßen attraktiv zu erhalten.

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